Es ist schon ein paar Wochen her, als mir in den sozialen Medien folgendes Zitat von RuPaul begegnet ist: You can look at the darkness. But don’t stare.
(Wörtlich übersetzt: Du kannst dir die Dunkelheit ansehen. Aber starre nicht.)
Ich weiß gar nicht mehr, worum es im Kontext des Videos noch ging, und inwiefern er das damals eingeordnet hat - mir ist nur dieser eine Satz im Gedächtnis geblieben. You can look at the darkness. But don’t stare.
Vor kurzem hatten wir als PX Sozialwerk eine Gruppe der katholischen Kirche zu Besuch. Sie absolvierten im Rahmen einer Weiterbildung zum Thema „Armutssensibel arbeiten“ bei uns einen Praxisbesuch. Die Gruppe kam aus ganz Deutschland und bestand aus Menschen mit unterschiedlichsten Prägungen. Ihnen gemein war, dass sie kein Vorwissen über unsere Arbeit oder unsere Thematik hatten. Für uns war das ein besonderer Abend - in den letzten Jahren haben wir uns stark professionalisiert, sind viel im Austausch mit anderen Fachberatungsstellen, Politiker*innen und in der Sozialarbeit tätigen Personen und die fachlichen Konversationen finden auf der Metaebene statt.
Diese Gruppe wiederum stellte andere, persönliche, unerfahrene Fragen:
Ist die Arbeit gefährlich? Ist das nicht traurig/frustrierend/traumatisierend? Seht ihr Gewalt? Wie geht ihr denn damit um? Wie könnt ihr nicht verzweifeln?
Für uns war es schön, an diesem Abend nicht nur professionell über unsere Arbeit zu sprechen, sondern auch unser Herz und unsere Leidenschaft für diese wunderbare Aufgabe zu teilen, die wir Tag für Tag tun dürfen. Von den starken Frauen* zu erzählen, denen wir hier tagtäglich begegnen und die uns mindestens genauso sehr ermutigen und inspirieren wie wir hoffentlich sie und von Begegnungen mit Fremden, die erst zu Bekanntschaften und dann zu Freund*innen wurden. Von Menschen, die die Freude über neugeborene Kinder und die Trauer über verlorene liebe Menschen miteinander teilen und von unzähligen Momenten, in denen man keine Worte findet, aber ganz viel Trost darin, dass man nebeneinander sitzt und miteinander schweigt.
Die Frage, wie wir damit umgehen, und warum wir nicht verzweifeln, die treibt mich allerdings auch heute noch oft um und eine fertige Antwort habe ich nicht - nicht nur in Bezug auf dieses Viertel und die Arbeit, die wir hier tun, sondern auch, wenn man in den Nachrichten hört und liest, wie grausam Menschen miteinander sind. Und manchmal, wenn die Wogen hoch kochen - hier vor Ort im Viertel, oder draußen „in der Welt“, da fühlt es sich so an, als wäre nun doch ein Punkt gekommen, an dem wir kapitulieren müssen. An dem wir eingestehen müssen, dass es zu viel ist, zu schlimm, zu dunkel. In einem solchen Moment ist mir das Zitat von RuPaul begegnet: You can look at the darkness, but don’t stare.
Dieses Zitat hat mich tief berührt und etwas in mir zum Klingen gebracht – der Satz wurde für mich zu einer kleinen Antwort, auf die Frage: „Wie könnt ihr hier nicht verzweifeln?“
Hier sind meine Gedanken dazu:
You CAN look at the darkness.
(Übersetzung: Du KANNST dir die Dunkelheit ansehen.)
can im Sinne von Du darfst. Es darf dich bewegen. Es darf dich berühren.
can im Sinne von Du kannst. Du schaffst das. Es wird dich nicht überwinden.
can im Sinne von Du hast die Wahl. Du kannst, aber du musst es nicht immer und ständig tun.
But don’t STARE.
(Übersetzung: Aber STARRE nicht.)
stare im Sinne von hängenbleiben. Nicht mehr wegsehen können.
stare im Sinne von glotzen. Mit morbider Faszination hinsehen.
stare im Sinne von erstarren. Nichts mehr tun, bewegungslos, hoffnungslos werden.
Momentan gibt es viel Dunkelheit um uns herum. In der Welt, aber auch hier in unserer Arbeit. Wir begleiten zur Zeit einige Frauen, deren Geschichten uns selbst nach 10 Jahren „Erfahrung“ noch zutiefst erschüttern und schockieren.
Wir sehen Kinder bei uns im Drop-In-Center, denen in ihren vier kurzen Lebensjahren schon mehr Leid zugestoßen ist – nein: angetan wurde -, als man sich überhaupt vorstellen kann.
Wir sehen Morddrohungen in den Beziehungen unserer Frauen, wir sind ohnmächtig angesichts der juristischen Lage in Deutschland.
Wir sehen Gewalt in den Laufhäusern: Würgemale, blaue Flecke, Türsteher, die Frauen* an den Haaren zu Boden werfen, weil Zimmer nicht rechtzeitig bezahlt sind.
Wir sehen viel Dunkelheit und manchmal scheint sie von allen Seiten näher zu kommen und stärker zu sein als wir.
Doch wann immer es dunkel wird, sehen wir auch ganz viel Licht. Wir sehen, wie Menschen mutig sind und angesichts der Dunkelheit beginnen zu strahlen.
Wir sehen Frauen*, die sich weigern, das gleiche Trauma Generation für Generation weiterzugeben und die mutige und harte Entscheidungen für sich und ihre Kinder treffen.
Wir sehen, wie Mütter* zu Löwinnen werden, die sich selbst aufopfern für ihre Kinder und Familien.
Wir sehen junge Frauen*, die Chancen ergreifen und kämpfen - kämpfen für ein besseres Leben für ihre Kinder, aber auch für sich selbst. Frauen*, die sich weigern, (sich) aufzugeben.
Wir erleben leichte Momente miteinander, obwohl alles schwer ist und wir spüren, wieviel Kraft es geben kann, sich gemeinsam zu weigern, aufzugeben. Wir sehen, dass wir zusammen viel mehr Licht haben, als wir dachten. Die Dunkelheit macht das Licht heller.
You can look at the darkness. But don’t stare.